GEMSilk-Projekt – Pionierarbeit an medizinischen Seiden-Biopolymeren

© Fraunhofer IME
Doktorandin Franziska Lai führt Mikroinjektionen an Seidenraupeneiern durch.
© Fraunhofer IME
Srinithi Kirubakaran (MSc-Studentin) bereitet Seidenraupen für die Analyse vor.

Die nächste Generation medizinischer Klebstoffe: Seide, die heilt

 

Dinge im Inneren des menschlichen Körpers zu verkleben, ist keine einfache Aufgabe. Wer schon einmal versucht hat, ein Pflaster auf feuchter Haut zu befestigen, weiß, wie frustrierend das sein kann. In der Chirurgie müssen Ärzte häufig Gewebe wieder verbinden oder innere Wunden in feuchter Umgebung verschließen – doch bestehende medizinische Klebstoffe halten oft nicht gut. Nähte und Klammern sind weiterhin Standard – aber wäre ein Kleber nicht schneller, sanfter und anpassungsfähiger?

Leider sind viele der aktuellen chirurgischen Klebstoffe alles andere als ideal. Manche sind stark, aber giftig für das Gewebe und haften schlecht auf feuchten Oberflächen. Andere sind sicherer, aber schwach und unzuverlässig. Die Folgen können schwerwiegend sein – nach einer Bauchoperation etwa kommt es bei bis zu jedem fünften Patienten zu inneren Leckagen an der Operationsstelle. Es ist also klar: Bessere medizinische Klebstoffe werden dringend gebraucht.

Die Natur könnte die Lösung bereits bereithalten. Einige Tiere produzieren wasserdichte Seide, die wie Klebeband unter Wasser funktioniert. Diese natürlichen Klebstoffe sind stark, härten schnell aus und haften hervorragend auf feuchten Oberflächen – genau das, was Chirurgen suchen. Das Problem: Diese Insekten sind klein und lassen sich nicht in nennenswerter Menge für die Ernte ihrer klebrigen Seide züchten. Aber was wäre, wenn wir Seiden produzierende Insekten dazu befähigen könnten?

 

Genau das ist das Ziel von GEMSilk – Genetisch Modifizierte Medizinische Seide (Genetically Engineered Medical Silk). Finanziert von Horizon Europe im Rahmen eines Marie Skłodowska-Curie-Postdoktorandenstipendiums – einem der Flaggschiff-Förderprogramme der EU – verfolgt GEMSilk einen innovativen Ansatz: Die Hausseidenraupe wird gentechnisch so verändert, dass sie eine neue Art von Seide produziert, die als biokompatibler medizinischer Klebstoff dient. Gefördert durch das Marie Skłodowska-Curie-Programm baut das Projekt auf der vorhandenen Expertise des Forschers auf, der sich schon vorher mit der genetischen Modifikation von Seidenraupen zur Förderung nachhaltiger kommerzieller Seidenproduktion konzentrierte. Unter der Leitung von Prof. Philipp Seib, dessen Forschung Biopolymere und Innovationen im Gesundheitswesen verbindet, vereint das Projekt Gentechnik und Materialwissenschaft, um die nächste Generation von Seidenklebstoffen zu entwickeln. Unterstützt wird das Projekt zudem von der Doktorandin Franziska Lai und der MSc-Studentin Srinithi Kirubakaran.

Nach den Prinzipien der Bionik – also dem Lernen von der Natur zur Lösung menschlicher Herausforderungen – will das Team eine nachhaltige und skalierbare Quelle für medizinische Klebstoffe schaffen. Dabei verschmelzen Biologie, Biotechnologie und Materialwissenschaft, um einen langjährigen klinischen Bedarf zu decken.

Seide: Ein uraltes Material neu erfunden

Seidenraupen werden seit Jahrtausenden gezüchtet. Ihre Seide – ein einziger Faden, der über einen Kilometer lang sein kann – ist stark, leicht und glatt. Seit Jahrhunderten wird Seide für chirurgische Nähte verwendet, und seit Kurzem auch in modernen Wundauflagen und chirurgischen Netzen. Sie ist sicher für den Einsatz im menschlichen Körper, wird nach und nach biologisch abgebaut und löst keine starken Immunreaktionen aus.

Seidenraupen sind ideale Produktionsorganismen. Sie sind domestiziert, leicht zu züchten und können große Mengen Seide produzieren – sie sind also zuverlässige Biofabriken. Wissenschaftler haben bereits Seidenraupen gentechnisch verändert, um Hybridfasern herzustellen, darunter Varianten, die Spinnenseide ähneln – bekannt für ihre Stärke und Elastizität.

Doch natürliche Seidenraupenseide ist zwar stark, aber nicht klebrig. Sie dient dazu, schützende Kokons zu bauen, nicht zur Haftung auf Oberflächen. Seide stößt sogar Wasser ab, was sie als Gewebekleber unbrauchbar macht. Deshalb geht GEMSilk über das bloße Ernten hinaus – es schreibt die genetischen Baupläne der Seidenraupe um. Durch das Einführen haftender Eigenschaften in die genetische Struktur der Seide entsteht ein völlig neues Material. Dieses neue Seidenprodukt behält die Vorteile der traditionellen Seide – und gewinnt die Fähigkeit hinzu, Gewebe in feuchter Umgebung miteinander zu verbinden.

© Fraunhofer IME
Seidenraupenlarve mit sichtbarem Seidenfaden (roter Pfeil) aus der Spinndrüse.
Weibliche (links) und männliche (rechts) Seidenkokons und Puppen.
© Fraunhofer IME
Weibliche (links) und männliche (rechts) Seidenkokons und Puppen.

Im Inneren des Kokons: Seidenraupen eine neue Fähigkeit verleihen

Damit Seide klebt, muss der genetische Code der Seidenraupe umgeschrieben werden. Das GEMSilk-Team verwendet dafür die CRISPR/Cas9-Technologie – eine Methode, mit der sich DNA präzise verändern lässt. Man kann es sich wie molekulare Chirurgie vorstellen: Die DNA wird an genau der richtigen Stelle geschnitten, und eine neue Anleitung wird eingefügt.

Dr. Brady entwickelte ein DNA-Stück mit dem genetischen Bauplan für klebende Proteinsegmente. Mithilfe der CRISPR/Cas-Technologie wird diese DNA in das Genom der Seidenraupe eingebaut. Das Ergebnis: Ein Hybridgen, das die Seidenraupe weiterhin Seide produzieren lässt – nun aber mit zusätzlichen, klebstoffähnlichen Eigenschaften.

Diese genetische Veränderung erfolgt ganz am Anfang der Entwicklung. Weibliche Falter legen winzige Eier, kleiner als ein Streichholzkopf. Diese Eier werden unter dem Mikroskop mit einer feinen Glaskapillare injiziert. So gelangen die CRISPR-Komponenten und die Spender-DNA in den Embryo – nur wenige Stunden nach der Eiablage. Dieser Schritt ist äußerst sensibel und präzise.

Um festzustellen, welche Seidenraupen das modifizierte Gen tragen, wird zusätzlich ein fluoreszierender Marker eingeführt. Unter dem Mikroskop leuchten die Augen der geschlüpften Raupen mit dem neuen Gen rot. Diese Individuen werden gezielt gezüchtet, um eine stabile Linie von Seidenraupen zu etablieren, die beständig den neuen Kleber produzieren. Diese Linie wird zu einer lebenden Produktionslinie für das neue Biomaterial. Anders als bei vielen anderen Modellinsekten – etwa Drosophila – lassen sich Seidenraupeneier bis zu einem Jahr lagern. Eine ständige Nachzucht ist daher nicht notwendig.

© Fraunhofer IME | Jennifer Kuhn
Erwachsener Seidenspinner

Eine neue Art von Seide züchten

Sobald die genetisch veränderte Seidenraupenlinie etabliert ist, folgt der nächste Schritt: die Prüfung der produzierten Seide. Die Raupen werden unter kontrollierten Bedingungen in der Insektenbiotechnologie-Einrichtung des Fraunhofer IME in Gießen aufgezogen. Nachdem die Larven ihre Kokons gesponnen haben, wird die Seide geerntet und analysiert.

Die wichtigste Frage ist simpel: Klebt sie? Mit mechanischen Tests, Mikroskopie und Gewebemodellen untersucht Dr. Brady, wie gut die neue Seide auf feuchtem Gewebe haftet, wie viel Kraft sie aushält und wie sie sich unter Belastung verhält.

Ebenso wichtig ist die Sicherheit. Medizinische Klebstoffe müssen biokompatibel sein. Sie dürfen keine Entzündungen, allergischen Reaktionen oder Toxizität auslösen. Natürliche Seide hat bereits ein exzellentes Sicherheitsprofil, und die in GEMSilk eingeführten Modifikationen sollen genau dieses beibehalten. Der neue Seidenkleber besteht aus Protein, ist biologisch abbaubar und könnte sich im Körper auflösen, während die Heilung fortschreitet.

Der Seidenkleber kann je nach medizinischem Einsatzbereich zu Pflastern, Bändern oder Gelen verarbeitet werden. Ein Streifen könnte beispielsweise über eine chirurgische Wunde gelegt werden und diese ohne Naht verschließen. In zukünftigen Versionen könnte der Kleber sogar durch ein Endoskop oder eine Spritze in schwer erreichbare Körperbereiche eingebracht werden.

Eine Plattform für Biomedizin und mehr

Die Ziele von GEMSilk gehen über einen einzelnen medizinischen Klebstoff hinaus. Das Projekt schafft eine Plattform für bioinspirierte Materialien. Mit unterschiedlichen genetischen Bauplänen könnten Seidenraupen künftig verschiedenste Materialien spinnen – von chirurgischen Klebstoffen über Hochleistungsfasern bis hin zu bioaktiven Beschichtungen.

Zudem bietet die Seidenraupe eine skalierbare Produktionsmethode. Eine kleine Zuchtanlage kann Tausende von Kokons erzeugen – jeder mit einem Kilometer Seidenfaden. Die Infrastruktur für die Seidenraupenzucht ist in vielen Teilen der Welt bereits vorhanden. Die im Rahmen von GEMSilk verwendeten genetischen Veränderungen sind so gestaltet, dass sie sich problemlos in dieses System integrieren lassen. Der Seidenkleber könnte also in kommerziellen Mengen mit traditionellen Methoden produziert werden.

Die Forschung trägt auch zur Mission des Fraunhofer IME bei, Insekten in der Biotechnologie zu fördern. GEMSilk hat zur Entwicklung neuer Mikroinjektionslabore, Geneditierungsprotokolle und eines erweiterten Know-hows geführt. Diese Fortschritte stärken die Fähigkeit des Instituts zur Entwicklung biobasierter Materialien und erweitern sein Potenzial in der angewandten Forschung.

© Fraunhofer IME
Reife Larven beim Bau ihrer Seidenkokons.

Der Weg in die Zukunft

Noch kommt der Seidenkleber nicht im Operationssaal zum Einsatz – aber bis zum Ende des Projekts will Dr. Brady eine funktionsfähige Linie von Seidenraupen mit Klebstoffproduktion sowie ein Seidenmaterial mit nachgewiesener Klebeleistung entwickeln. Weitere Tests und Entwicklungen sind nötig, um die medizinischen Zulassungen zu erreichen.

© Fraunhofer IME
Frisch geschlüpfte Seidenraupe.

Der Ausblick ist vielversprechend: Ein zuverlässiger, biokompatibler Kleber, der auf feuchten Geweben funktioniert, könnte Patientenversorgung verbessern und Komplikationen nach Operationen verringern. Chirurgen hätten ein neues Werkzeug, das Wunden schneller und sicherer verschließt – für Patienten bedeutet das womöglich weniger Nähte, weniger Narben und eine schnellere Genesung.

 

 

 

GEMSilk zeigt auch, was möglich ist, wenn Wissenschaftler*innen sich von der Natur inspirieren lassen – die Lösung eines Insekts auf ein anderes übertragen, um etwas völlig Neues zu schaffen. Die Seide der Zukunft ist vielleicht nicht nur ein Textil. Sie könnte Wunden verschließen, Organe reparieren und Heilung beschleunigen – und damit das Gesundheitswesen auf ganz neue Weise zusammenhalten.

Das Thema ist auch für Sie interessant? Dann kontaktieren Sie uns gerne!

Bei Interesse an einer Kollaboration oder einer Forschungs- und Entwicklungsleistung kontaktieren Sie uns!

 

Wir Begutachten gemeinsam ihre Fragestellung und evaluieren, ob wir diese mit unserer Plattform und unseren Analysemethoden adressieren können.

Dr. Daniel Brady

Wissenschaftlicher Mitarbeiter

Fraunhofer-Institut für Molekularbiologie und Angewandte Oekologie IME
Ohlebergsweg 12
35392 Gießen, Deutschland

Telefon +49 641 97219-305

 

Biodiversitätsforschung